Sozialpolitik / Sozialstaat

Die politische Gleichheit, auf der die Demokratie beruht, wäre ohne ein bestimmtes Maß an materieller und sozialer Gleichheit ein Torso. Das Sozialstaatsgebot, das das Grundgesetz in Artikel 20 festschreibt, kennzeichnet den Wandel vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat. Es verpflichtet den Staat zur Gestaltung der sozialen Ordnung im Sinne einer mehr oder weniger umfassenden „Daseinsvorsorge“. Dies schließt unter anderem die Hilfeleistung bei Not und Armut ein, den Schutz gegen Risiken des Einkommensausfalls, die durch Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Kinder verursacht sein können, die Herstellung und Ermöglichung sozialer Gerechtigkeit sowie die Unterstützung und Gewährleistung der Selbstregulierungskräfte der Wirtschaft.

Der Grundrechtskatalog weist zahlreiche Bezüge zur Sozialstaatsprinzip auf, das ansonsten aber nicht näher präzisiert wird. Mit Ausnahme der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums lassen sich aus ihm keine individuell einklagbaren Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen ableiten. Ein Grundrecht auf Arbeit besteht ebenso wenig wie ein vorgegebenes Maß für eine gerechte Umverteilung. Der Gesetzgeber besitzt deshalb bei der Umsetzung des Prinzips einen großen Gestaltungsspielraum. Was der Sozialstaat im Einzelnen gebietet, entscheidet am Ende die demokratische Politik.

International betrachtet besitzt die Bundesrepublik einen der am breitest ausgebauten Sozialstaaten. Dieser konnte 1949 auf eine deutlich längere Tradition zurückblicken als die Soziale Marktwirtschaft, war er doch in seinen Grundzügen bereits im Kaiserreich etabliert worden. Anders als die Rede vom Bismarck‘schen Sozialstaatsmodell suggeriert, handelte es sich dabei nicht um eine exklusive Erfindung der Konservativen. Die Reformen wurden wesentlich von der katholischen Zentrumspartei geprägt. Statt einer staatlich finanzierten Zwangsversicherung, wie sie Bismarck im Sinn hatte, setzte diese ihre vom Subsidiaritätsprinzip geleitete Vorstellung eines selbstverwalteten, beitragsfinanzierten Systems durch, bei dem die Einzelnen ihre Ansprüche auf soziale Leistungen individuell erwerben sollten. Dieses Modell besteht in seinen Grundzügen bis heute.

Sozialstaat und Sozialpolitik umfassen inzwischen allerdings sehr viel mehr. Neben den Sozialversicherungen (Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung), deren Finanzierung durch gemeinsam (paritätisch) aufgebrachte Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erfolgt, bestehen Förder- oder Fürsorgeleistungen wie Kindergeld, Elterngeld, Erziehungsgeld, Ausbildungsförderung (BAföG), Wohngeld oder die Grundsicherung für Arbeitslose (Bürgergeld), die aus Steuermitteln finanziert werden. Als weitere Posten sind die Zuschüsse zu privaten Versicherungen und Versorgungswerken sowie die Entschädigungen für NS- und Kriegsopfer zu nennen. Von den Arbeitgebern zu tragen sind die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die betriebliche Altersversorgung und die Zusatzversorgung für Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes. Letzterer unterhält mit Pensionen, Familienzuschlägen und der Beihilfe sein eigenes, staatlich finanziertes Versorgungssystem.

2021 machten die in diesem Rahmen erbrachten Leistungen zusammengenommen rund 1.160 Milliarden Euro aus, was knapp einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die Finanzierung erfolgte dabei zu in etwa gleichen Teilen aus Versichertenbeiträgen, Beiträgen der Arbeitgeber und Steuern. Von den Ausgaben entfielen 60 Prozent auf die Sozialversicherungen und 40 Prozent auf die übrigen Leistungen.

© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)

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