Politische Kultur

Die Demokratie ist keine rein staatliche Angelegenheit, sondern ein allgemeines Gestaltungsprinzip gesellschaftlicher Beziehungen. Eine autoritäre Gesellschaft könnte einen demokratischen Staat weder legitimieren noch dauerhaft stützen. Für die Stabilität eines demokratischen Gemeinwesens sind deshalb neben gut konstruierten Institutionen die Einstellungen ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie des Führungspersonals wichtig, also der politischen und gesellschaftlichen Eliten. Diese Einstellungen werden in der Politikwissenschaft unter den Begriff der politischen Kultur gefasst.

In der Alltagssprache und von Politikern wird der Begriff häufig nicht neutral benutzt, sondern als Umschreibung erstrebenswerter Verhaltensweisen oder Zustände in einem Gemeinwesen positiv besetzt. Wer etwa sagt, dieses oder jenes sei ein „Anschlag auf die politische Kultur“, legt dieses wertegebundene Verständnis zugrunde. Meistens geht es dabei um die Äußerungen oder Handlungen konkreter Personen.

In der wissenschaftlichen politischen Kulturforschung liegt das Hauptaugenmerk dagegen auf den kollektiven Ansichten und Befindlichkeiten. In ihrer Pionierstudie zur politischen Kultur haben die US-amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba eine Typologie entwickelt, die einerseits fragt, worauf die Einstellungen der Bürger bezogen sind – die politischen Institutionen, die Leistungen der Politik oder die eigene Rolle im politischen System. Andererseits wird nach dem Charakter dieser Einstellungen zwischen „parochialen“ (vormodernen), „obrigkeitsstaatlichen“ und „partizipativen“ Orientierungen unterschieden (Partizipation).

Konstatierten vergleichende Länderstudien wie die von Almond und Verba für die frühe Bundesrepublik noch einen starke Obrigkeitshörigkeit, kam es in der Folge zu einer raschen Angleichung an die partizipativ geprägten Kulturen der angelsächsischen „Musterdemokratien“. Der Generationenwechsel, die auch im Alltagsleben vollzogene Öffnung nach Westen und die Bildungsexpansion führten zu einer nachhaltigen Demokratisierung auf der Wert- und Verhaltensebene. Gleichwohl blieben gewisse Kontinuitäten der älteren politischen Kultur erhalten. Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern war und ist das besonders an der breiten Akzeptanz der sozialstaatlichen Einstellungen ablesbar.

Ambivalente Wirkungen auf die politische Kultur gingen von der → deutschen Einheit aus. So unzweifelhaft der Untergang der DDR das Resultat einer basisdemokratischen Bewegung war, konnte das den wachsenden Verdruss der Neubürgerinnen und -bürger an der Demokratie nicht aufhalten. In ihm schlugen sich sowohl die Enttäuschungen über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Transformationsprozesses nieder als auch tiefer sitzende kulturelle Minderwertigkeitsgefühle. In den autoritären Einstellungen vieler Ostdeutscher wirkt die Erblast des SED-Staates bis heute nach. Die Demokratiezufriedenheit liegt unverändert um rund 20 Prozentpunkte niedriger als im Westen, der Zuspruch für die rechten und linken Randparteien (AfD und Die Linke) ist etwa dreimal so hoch. Bezogen auf die politische Kultur sind die Deutschen somit auch mehr als 30 Jahre nach der Einheit immer noch nicht „ein Volk“.

© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)

 

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