Bundespräsident
Der Bundespräsident wird gelegentlich als „erster Mann“ im Staate bezeichnet. Das rührt zum einen daher, dass bisher noch nie eine Frau das Amt bekleidet hat – die zwölf Präsidenten, die von 1949 bis 2023 amtiert haben (Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Johannes Rau, Horst Köhler, Christian Wulff, Joachim Gauck, Frank-Walter Steinmeier) waren allesamt Männer. Zum anderen verweist der Begriff auf die Stellung des Präsidenten als Staatsoberhaupt.
Diesem werden üblicherweise zwei Funktionen zugeschrieben: eine Reserve- und eine Integrationsfunktion. Unter der „Reservefunktion“ versteht man Befugnisse im Bereich der Regierung und Gesetzgebung. Diese werden im Normalfall nicht virulent, sondern müssen sich nur in bestimmten Ausnahmesituationen und Krisenzeiten bewähren. Darunter fallen die Mitwirkungsbefugnisse des Bundespräsidenten bei der Regierungsbestellung und Parlamentsauflösung, das formelle und materielle Prüfungsrecht bei der Gesetzesausfertigung sowie die Ausrufung des Gesetzgebungsnotstandes.
Die „Integrationsfunktion“ manifestiert sich in den repräsentativen Aufgaben des Staatsoberhauptes bzw. genauer: in den Aufgaben der symbolischen Repräsentation, da ja die inhaltliche Repräsentation den eigentlichen Regierungsinstitutionen vorbehalten bleibt. Der Präsident soll das Staatsganze darstellen, die Einheit des Volkes nach innen wie nach außen verkörpern und nötigenfalls eine ausgleichende oder schiedsrichterliche Position im politischen Machtspiel einnehmen. Dazu steht ihm zum einen das Mittel der Rede zur Verfügung, von dem er allerdings nur in dem von der Regierung vorgegebenen Rahmen freien Gebrauch machen kann – diese Einschränkung betrifft besonders die Außenpolitik. Zum anderen erfolgt die Repräsentation durch zeremonielles und staatsnotarielles Handeln, was auf die monarchische Herkunft des Amtes zurückverweist.
Gewählt wird der Bundespräsident durch ein ausschließlich für diesen Zweck vorgesehenes Gremium, die Bundesversammlung. Die Verfassungsgeber im Parlamentarischen Rat entschieden sich seinerzeit bewusst gegen eine Direktwahl, weil sie den Präsidenten nicht auf eine höhere Stufe stellen wollten als den Kanzler. Eine Direktwahl würde auch zu den eingeschränkten politischen Befugnissen nicht passen. Dennoch flammt die Diskussion um das Wahlverfahren in bestimmten Abständen immer wieder auf. Kritik entzündet sich insbesondere daran, dass die Präsidentenwahl stark von parteipolitischen Kalkülen bestimmt wird. Wann immer die Gelegenheit besteht, einen eigenen Kandidaten durchzusetzen, wollen die Parteien sie nutzen. Mit Joachim Gauck gab es bisher nur einen parteilosen Amtsinhaber, dessen Wahl 2012 parteiübergreifend von CDU / CSU, SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP unterstützt wurde.
Kandidieren darf, wer das 40. Lebensjahr vollendet hat. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre, eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Nur zwei Präsidenten – Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker – erreichten die maximale Amtsdauer von zehn Jahren. Heinrich Lübke und Horst Köhler traten aus unterschiedlichen Gründen während ihrer zweiten Amtszeit zurück, Christian Wulff sogar schon in der ersten. Die übrigen Präsidenten verzichteten auf eine Wiederwahl – entweder aus freien Stücken oder weil sie diese aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung abschreiben mussten. Bei einer vorsätzlichen Rechtsverletzung können Bundestag und Bundesrat eine Amtsenthebung verlangen, über die das Verfassungsgericht entscheidet. Vertreten wird der Präsident durch den jeweils amtierenden Präsidenten des Bundesrates. Amtssitz des Bundespräsidenten ist das Berliner Schloss Bellevue. Zur Wahrnehmung seiner Aufgaben verfügt er über eine eigene Behörde – das Bundespräsidialamt – mit 220 Mitarbeitern.
Von den Bundespräsidenten wird erwartet, dass sie ihr Amt unparteiisch ausüben. Deshalb lassen sie ihre Parteizugehörigkeit während der Präsidentschaft „ruhen“ und nehmen sie auch nach dem Ende ihrer Amtszeit nicht wieder auf. Nicht alle Präsidenten haben sich zu jeder Zeit in die ihnen auferlegte Zurückhaltung gefügt. Dies führte zu gelegentlichen Unstimmigkeiten mit Kanzler und Regierung, die sich aber nie zu einer Systemkrise auswuchsen. Entsprechend rar gesät sind die Fälle, in denen die Amtsinhaber die Ernennung eines Ministers oder die Ausfertigung von Gesetzen verweigert haben. Auch bei der Anberaumung vorzeitiger Neuwahlen (1972, 1982 und 2005) sind die Präsidenten bisher stets dem Willen der jeweiligen Bundesregierungen gefolgt
Von daher auf die Machtlosigkeit des Amtes zu schließen, wäre zu kurz gedacht. Mit seinen Reservebefugnissen verfügt der Präsident durchaus über politische Gestaltungsmöglichkeiten, nur dass diese eher im Hintergrund wirken. Ein Beispiel dafür ist die Rolle Frank-Walter Steinmeiers beim Zustandekommen der Großen Koalition 2018. Gleichzeitig kann er mit dem Mittel der Rede persönliche Autorität entfalten. Im günstigsten Falle wird er so zu einer moralischen Instanz – wie etwa Richard von Weizsäcker, der mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 Maßstäbe setzte und für viele bis heute das Idealbild des Staatsoberhaupts verkörpert.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)