Partizipation
Partizipation, genauer politische Partizipation oder politische Beteiligung – beide Begriffe sind bedeutungsgleich –, gehört neben der Repräsentation zu den Prinzipien, in denen sich die demokratische Idee der Volkssouveränität verdichtet. Ihre genaue Abgrenzung fällt mit Blick auf den Doppelcharakter der Demokratie als Staats- und Lebensform schwer (Politische Kultur). Sozialwissenschaftler wie Max Kaase fassen unter den Begriff freiwillig unternommene Handlungen von Bürgern, um Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen. Es geht also erstens um Handlungen – Einstellungen wie das politische Interesse oder die Demokratiezufriedenheit stellen noch keine Partizipation dar. Zweitens gehen die Handlungen von den Bürgern als Adressaten der Politik und nicht von berufsmäßigen Politikern aus. Drittens soll mit ihnen Einfluss genommen werden. Rein kommunikative oder passiv-unterstützende Handlungen bleiben ausgeklammert (Diskussion über Politik im Freundeskreis, Verfolgen der politischen Berichterstattung in den Medien, Zahlen von Steuern usw.). Und viertens sind die Handlungen politischer Natur. Soziales Engagement fällt ebenso heraus wie die Selbstverwaltung und Demokratisierung der gesellschaftlichen „Lebenswelt“ (Wirtschaft, Arbeit, Erziehungswesen usw.). Dem steht nicht entgegen, dass gerade diese Formen, indem sie Zusammenhalt stiften, das Funktionieren der staatlichen Demokratie maßgeblich fördern. Anhänger eines weiter gefassten Demokratieverständnisses tun sich deshalb schwer, beides zu trennen und schlagen stattdessen vor, die politischen und sozialen Partizipationshandlungen unter dem Oberbegriff „bürgerschaftliches“ oder „zivilgesellschaftliches“ Engagement zusammenzufassen.
Insgesamt findet sich eine kaum zu überblickende Zahl an Möglichkeiten der politischen Beteiligung. Diese können unter verschiedenen Gesichtspunkten unterschieden und klassifiziert werden:
Verfasst versus nicht-verfasst. Die Beteiligungsverfahren sind entweder durch Verfassung, Gesetz oder sonstige Regelungen rechtlich vorgegeben und somit institutionalisiert oder gehen außerhalb eines solchen Rahmens von den Bürgern selbst aus. Bei den verfassten Formen wären an erster Stelle die Wahlen zu nennen, sodann die Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen der Parteien und die Volksabstimmungen.
Legal versus illegal. Die nicht-verfassten Formen schließen auch gesetzeswidrige Handlungen ein. Bei diesen ist wiederum zwischen gewaltsamen und nicht gewaltsamen Formen zu unterscheiden. Unter die erstgenannten fallen etwa terroristische Handlungen oder Ausschreitungen bei Demonstrationen, unter die letztgenannten Akte des zivilen Ungehorsams wie Blockaden, Hausbesetzungen oder Steuerstreiks.
Legitim versus illegitim. Legitim sind Beteiligungshandlungen, die von den Mitgliedern der politischen Gemeinschaft als moralisch gerechtfertigt betrachtet werden. Bei den illegitimen Handlungen ist das nicht der Fall, selbst wenn sie legal sind. Legitimitätsvorstellungen verändern sich im Zeitverlauf und unterscheiden sich auch zwischen Ländern und Gesellschaften. Im Zuge des Wertewandels hat zum Beispiel die Akzeptanz von Protestmärschen oder Demonstrationen zugenommen. Galten sie früher noch als „unkonventionelle“ Beteiligungsformen, steht ihre Legitimität heute außer Zweifel.
Protestorientiert versus aktiv-unterstützend. Problem- oder protestorientierte Partizipation richtet sich zumeist auf ganz bestimmte Anliegen und Projekte. Die Bürger können sich dabei für oder gegen etwas engagieren. Die Bandbreite der Formen reicht von der Beteiligung an genehmigten Demonstrationen über die Mitarbeit in Bürgerinitiativen bis zu Boykottmaßnahmen (Opposition). Sie schließt aber auch verfasste Partizipationsformen ein. Volksabstimmungen zielen zum Beispiel häufig darauf ab, Vorhaben der Regierenden zu Fall zu bringen. Das Wahlverhalten kann ebenfalls von Protestmotiven bestimmt sein und zur gezielten Unterstützung von radikalen oder Außenseiterparteien genutzt werden. Aktiv-Unterstützende Handlungen bewegen sich hingegen ausschließlich in der Sphäre des Parteienwettbewerbs. Sie betonen zum einen die Staatsbürgerrolle, indem man an Wahlen und Abstimmungen teilnimmt, zum anderen die Schlüsselstellung der Parteien als politische Willensbildungs- und Entscheidungsorgane.
Nach den eher durch Passivität geprägten 1950er Jahren nahm die Partizipationsbereitschaft und -orientierung der Bundesbürger ab den 1960er Jahren deutlich zu. Neben der Ausschöpfung der verfassten Formen, die sich in hohen Wahlbeteiligungen und einem starken Mitgliederwachstum der Parteien niederschlug, traten jetzt auch unkonventionelle und protestorientierte Formen, die zum Teil in Gewalt ausarteten. In den 1980er Jahren öffnete sich die Schere zwischen den verfassten und nicht-verfassten Formen. Sinkende Wahlbeteiligungen und die nachlassende Integrationsfähigkeit des Parteiensystems schienen Ausdruck einer neuen „Politikverdrossenheit“, die aber weder mit abnehmenden politischen Interesse noch einem Rückgang der anderen Beteiligungsformen einherging.
Die Parteien reagierten darauf mit dem Versuch, die letzteren stärker in die Kanäle der verfassten Partizipationsformen zu lenken. Standen in den 1990er Jahren dabei der Ausbau der direktdemokratischen Verfahren und der Mitgliederbeteiligung in den Parteien im Vordergrund, hat sich der Schwerpunkt seither auf die weniger verbindlichen Formen der deliberativen Bürgerbeteiligung verlagert. Als prominentestes Verfahren stechen die
Bürgerräte hervor, die zu bestimmten Themen eingesetzt werden, um für die politischen Entscheidungsträger Empfehlungen zu erarbeiten. Beginnend mit dem Leipziger Bürgerrat 2019 ist das in den Kommunen schon vorher verbreitete Instrument inzwischen auch auf der Bundesebene mehrfach erprobt worden.
Die Befürworter der Bürgerräte verweisen vor allem auf den Vorteil ihrer sozial repräsentativen Zusammensetzung, die durch den Zufallsausfall der Teilnehmenden per Los verbürgt werde. Damit adressieren sie ein Problem, das alle Formen der Partizipation teilen: ihre Selektivität. Es sind vornehmlich die besser gebildeten, einkommensstärkeren und über genügend Zeitressourcen verfügenden Bürger, die die mitunter kostenaufwändigen Beteiligungsmöglichkeiten nutzen. Besorgniserregend ist, dass der Trend zur ungleichen Beteiligung seit zwei Jahrzehnten zunehmend auch auf die Wahlen übergreift. Politikwissenschaftler wie Wolfgang Merkel sprechen deshalb von einer „Zweidritteldemokratie“, in der die Meinungen und Interessen der unteren Schichten immer weniger zur Geltung kämen.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)