Grundrechte
Den Kern der Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit bilden die in Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes aufgelisteten Grundrechte. Diese verkörpern eine „objektive Wertordnung“, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung in alle Bereiche des Rechts hineinwirkt. Die Grundrechte sind nicht nur als Abwehrrechte gegenüber dem Staat zu verstehen, sondern entfalten ihre Bedeutung zugleich im Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger untereinander („Drittwirkung“). Ihre Schranken erfahren sie einerseits durch die anderen Grundrechte, gegen die sie im Falle einer Kollision abgewogen werden müssen, zum anderen durch die allgemeinen Gesetze. Diese Schranken sind als sogenannter Gesetzesvorbehalt zum Teil schon in den Grundrechtsartikeln selbst eingezogen.
Auch die Einschränkbarkeit der Grundrechte durch die Gesetze unterliegt jedoch Grenzen. Sie müssen geeignet und erforderlich sein, um ihren vorgegebenen Zweck zu erreichen. Zudem darf die Schwere des Eingriffs im Verhältnis zu diesem Zweck nicht so groß sein (Verhältnismäßigkeitsprinzip). Das einzige Grundrecht, für die das Grundgesetz keine Schranken kennt, ist die in Artikel 1 festgeschriebene Menschenwürde.
Grundrechte sind individuelle, persönliche Rechte. Sie gelten unabhängig vom Alter, auch wenn bestimmte Gruppen wie Kinder oder unter Betreuung stehende Menschen sie faktisch noch nicht oder nicht mehr ausüben können. Zum Teil lassen sie sich auch auf juristische Personen übertragen und schließen institutionelle Garantien ein (etwa bei der Pressefreiheit).
Einige Grundrechte stehen als Bürgerrechte nicht allen, sondern nur den Deutschen zu, sind also an die Staatsangehörigkeit gebunden. Dies gilt zum Beispiel für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die einen besonderen Bezug zur politischen Willensbildung aufweisen, für das außerhalb des Grundrechtsteils in Artikel 20 Absatz 2 und 38 Absatz 2 normierte Wahlrecht sowie für die Freizügigkeit und die Berufsfreiheit. Mit Ausnahme des Wahlrechts sind die genannten Rechte über den Grundsatz der Handlungsfreiheit (Artikel 2) jedoch im Allgemeinen genauso für die Nichtdeutschen gewährleistet. Artikel 3, der den Gleichheitsgrundsatz festschreibt, nimmt sogar ausdrücklich auf Merkmale wie „Rasse“ oder Sprache Bezug, die gerade mit Blick auf die nichtdeutsche Bevölkerung relevant sind. Dasselbe gilt für das in Artikel 16 geregelte Recht politischer Verfolgter auf Asyl, auch wenn dessen Schutzumfang unter dem Druck der hohen Flüchtlingszahlen 1993 begrenzt wurde (Einwanderungsgesellschaft)
Soziale Grundrechte in Form von subjektiven Anspruchsrechten enthält das Grundgesetz nicht – sie werden vor allem über das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde verbürgt. Ähnlich zurückhaltend ist es bei Staatszielbestimmungen oder der Festlegung korrespondierender Grundpflichten. Für die Erstgenannten ist hier vor allem der Umweltschutzartikel 20a zu nennen, der lange Zeit den Charakter eines rechtlich unverbindlichen Programmsatzes trug, bevor er vom Bundesverfassungsgericht in dessen Klimaschutzurteil 2020 in den Rang eines einklagbaren Grundrechts erhoben wurde.
Der Grundrechtsschutz ist in der Bundesrepublik stark ausgebaut. Er ist eine Aufgabe alle staatlicher Organe, also auch des Gesetzgebers und der Regierung, die in ihrer Interpretation der Grundrechte allerdings einen weiten Einschätzungsspielraum haben. Besondere Bedeutung kommt deshalb den Gerichten und hier vor allem dem Bundesverfassungsgericht zu. Die Bürgerinnen und Bürger können sich mittels einer Verfassungsbeschwerde an Letzteres wenden, wenn sie sich durch Entscheidungen von Gerichten oder Behörden in ihren Grundrechten beschnitten sehen. Auch in den Verfahren der Normenkontrolle nehmen die Grundrechte breiten Raum ein. Im Rahmen der wehrhaften Demokratie sieht das Grundgesetz die Möglichkeit einer Verwirkung von Grundrechten vor (Artikel 18), wenn diese zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht werden. Auch darüber entscheidet das Verfassungsgericht.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)