Einwanderungsgesellschaft

2022 hatten 23,8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik einen Migrationshintergrund, was einem Anteil von 28,7 Prozent der Bevölkerung entspricht. Dieser Anteil wird im Zuge der demografischen Entwicklung künftig weiter zunehmen. Gegenüber dem Vorjahr 2021 betrug der Anstieg 5,2 Prozent. Laut der Definition des Statistischen Bundesamtes ist ein Migrationshintergrund gegeben, wenn die Person selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.

Gut 60 Prozent der seit den 1950er-Jahren Zugewanderten entstammen dem christlichen Kulturkreis, etwa 40 Prozent sind Muslime. Bei der Zuwanderung ist zwischen Arbeitsmigranten und Geflüchteten beziehungsweise Asylsuchenden zu unterscheiden. Von den 1950er- bis 1980er-Jahren stellten die angeworbenen „Gastarbeiter“ und ihre später nachgeholten Familienangehörigen das Gros der Zugewanderten. Nachdem die Bundesrepublik 1955 ein erstes Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen hatte, um den wachsenden Bedarf an Arbeitskräften zu befriedigen, folgten weitere Abkommen mit Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und dem damaligen Jugoslawien.

Von den 14 Millionen Gastarbeitern, die bis zum Anwerbestopp 1973 nach Deutschland kamen, kehrte der größte Teil (elf Millionen) in ihre Herkunftsländer zurück. Am wenigsten galt das für die türkischen Zuwanderer, die heute – bezogen auf den Migrationshintergrund – mit drei Millionen die größte Gruppe der „Ausländer“ stellen. Etwa die Hälfte von ihnen hat die türkische Staatsbürgerschaft behalten. Eine besondere Gruppe bilden die 3,2 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler, die als deutsche „Volkszugehörige“ aus Osteuropa und der früheren Sowjetunion in die Bundesrepublik kamen.

Großen Fluchtbewegungen sah sich das Land zu Beginn der 1990er-Jahre und 2015/16 gegenüber, als binnen kurzer Zeit 400.000 beziehungsweise 1,2 Millionen Personen Aufnahme begehrten. 1993 wurde das bis dahin schrankenlose Asylrecht durch eine Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16)  eingeschränkt. Wer über einen EU-Staat in die Bundesrepublik einreist oder aus einem als sicher eingestuften Herkunftsstaat kommt, kann sich seither nicht mehr auf politische Verfolgungsgründe berufen. 2015/16 brach das sogenannte Dublin-System der Europäischen Union, das dem von einem Flüchtling zuerst betretenen Mitgliedsland im Regelfall die Verantwortung für die Durchführung des Asylverfahrens zuweist, unter dem Druck der hohen Zahlen faktisch zusammen. Die Quote der positiv beschiedenen Asylanträge schwankte in den letzten Jahren zwischen 35 (2018) und 56 Prozent (2022). Die Abschiebung der nicht anerkannten Bewerber gestaltet sich häufig schwierig, wenn zum Beispiel die Herkunftsländer nicht ermittelbar sind oder diese die Rücknahme verweigern.

Wie sich die Zuwanderung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die staatsbürgerliche Solidarität auswirkt, ist Gegenstand der Debatte um die richtige Integrationspolitik. Im Kern geht es dabei um die Frage, welche Art der Identifikation mit dem Aufnahmeland den Zugewanderten abverlangt werden kann. Soll sie strikt politisch sein, das heißt, sich auf die Achtung der Gesetze und Anerkennung der in der Verfassung festgeschriebenen Prinzipien beschränken? Oder erfordert sie eine umfassendere Identifikation mit der → Nation, wozu die Achtung von deren Symbolen, das Sprechen der Landessprache, die Kenntnis der Geschichte und die Anerkennung besonderer kultureller Eigenarten gehört, die die Nation auszeichnet, darunter auch eine bestimmte Religion? Für Eingewanderte, die ihre Wurzeln in nichtliberalen Gesellschaften haben, kann eine solche umfassendere Integrationsanforderung eine harte Zumutung darstellen. Umgekehrt stellt sich aus der Sicht der aufnehmenden Gesellschaft die Frage, welche Folgen es für sie hat, wenn die Integration der Zugewanderten nicht gelingt. Maßgeblich für den Erfolg dürfte einerseits deren Anzahl sein, andererseits das Tempo, mit dem sie sich den Normen und Prinzipien der Aufnahmegesellschaft anpassen.

Die Einwanderung ist ein Thema, das in der Gesellschaft und der Politik stark polarisiert. Das gilt vor allem und seit den 1990er-Jahren verstärkt für die Asyl- und Flüchtlingsmigration. Wurden die kulturellen Anerkennungskonflikte, die die Integration der Zuwanderer auslöst, in der Bundesrepublik bis dahin eher diskret ausgetragen, sind sie heute ein bedeutsamer Teil des politischen Meinungskampfes. Dazu hat nicht zuletzt die AfD beigetragen, deren ideologisches und programmatisches Hauptmerkmal die abwehrende Haltung gegenüber den Eingewanderten ist. Mit ihr konnte sich in der Bundesrepublik ab 2013 zum ersten Mal eine rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme Kraft im Parteiensystem dauerhaft etablieren.

© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)

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