15. September 1935
Nürnberger Gesetze
Die Unterteilung in zwei Klassen
Auf dem Nürnberger Parteitag beschloss der dort einberufene Reichstag am 15. September 1935 das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Diese „Nürnberger Gesetze“ und die später folgenden Verordnungen unterteilten die Deutschen in zwei Klassen. Die vollen Rechte standen fortan lediglich den „Reichsbürgern“ zu, die „deutschen oder artverwandten Blutes“ sein mussten. Die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger konnten nur noch (einfache) Staatsangehörige sein, die zwar dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehörten und diesem „besonders verpflichtet“ waren, aber keine politischen Rechte hatten.
Die „Volksgemeinschaft" und die „Rassegegner“
Diese Ausgrenzung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden begünstigte die Integration der nicht-jüdischen Deutschen zur „Volksgemeinschaft“, da unterschiedliche psychologische und materielle Effekte zusammenkamen: Die Abwertung der einen lief gleichsam auf eine Aufwertung der anderen hinaus, und nicht wenige „Volksgenossen“ zogen aus der Diskriminierung der Jüdinnen und Juden auch persönliche Chancen, Vorteile oder Gewinne. Diese faktischen Wirkungen wurden andererseits von ideologischen Grundsätzen überwölbt. Zwar war das weltanschauliche Denken der NS-Führungsriege nicht völlig einheitlich. Doch bei den Grundüberzeugungen stimmten sie überein, trotz aller Differenzen im Einzelnen. Inwiefern die Ideologie auf die Praxis einwirkte, hing wesentlich von Hitler ab, der die grundsätzlichen Linien der nationalsozialistischen Politik bestimmte. In seinem Denken, das von Ideen des 19. Jahrhunderts beeinflusst war und diese radikal weiterentwickelte, waren Krieg und Rassismus eng miteinander verbunden. Für ihn existierten verschiedenwertige „Rassen“, unter denen „die Juden“ den „Feind der Menschheit“ repräsentierten. Bereits frühzeitig propagierte er deshalb einen Antisemitismus, dessen Ziel die „Entfernung der Juden“ sein müsse.
Im Sinne dieser pseudohistorischen Mission zur Errettung der Menschheit begann bereits unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme eine antisemitische Politik. Jüdinnen und Juden wurden als Gemeinschaftsfremde und Rassegegner stigmatisiert. Die Folge waren nicht nur Beschimpfungen und Demütigungen, sondern auch willkürliche Gewaltakte und pogromartige Übergriffe. Auf vielfältige Art und Weise hing die antisemitische Gewalt „von unten“ mit der Diskriminierung und Entrechtung durch Verordnungen „von oben“ zusammen. Daraus gewann der Antisemitismus an Dynamik, der bereits im Jahr 1933 mehr als 37.000 Jüdinnen und Juden zur Auswanderung veranlasste.
Reichsweiter Boykott
Einen ersten Höhepunkt markiert der 1. April 1933. Für diesen Tag hatte das Regime zu einem reichsweiten Boykott jüdischer Einrichtungen (Geschäfte, Warenhäuser, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien usw.) aufgerufen, der unter der Parole stand: „Die Juden sind unser Unglück“. Die sich radikalisierende Verfolgungspolitik brachte in der Folgezeit viele Verordnungen hervor, mit denen die soziale Ausgrenzung der deutschen Jüdinnen und Juden sowie ihre ökonomische Unterdrückung immer weiter vorangetrieben wurde.
Die gesetzlich festgelegte Ungleichheit
Die „Nürnberger Gesetze“ erhoben das Ende des Gleichheitsprinzips zum Gesetz: Das „Reichsbürgergesetz“, das eine wesentliche Forderung des Parteiprogramms der NSDAP verwirklichte, ersetzte die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger durch die Ideologie einer „naturgesetzlichen Ungleichheit und Verschiedenartigkeit der Menschen“. Das zweite Gesetz, das „Blutschutzgesetz“ verbot unter anderem Eheschließungen und Geschlechtsverkehr zwischen „Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“. Es sollte, wie es in der Präambel hieß, „der Erkenntnis“ dienen, dass „die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes ist“.
Als Ergänzung zu den Nürnberger Rassegesetzen folgte einen Monat später das „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes“. Es verbot all denjenigen die Eheschließung, die als erbbiologisch minderwertig galten. Bereits im Sommer 1933 war ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten, das auch die Möglichkeit zur Zwangssterilisation schuf. Es wurde 1935 zu einem Abtreibungsgesetz erweitert.
Rassenbiologische Begründung
Der Zusammenhang der Gesetzesverfahren entsprach der rassenbiologischen Ideologie des Nationalsozialismus, der Menschen als erbbiologisch oder rassisch minderwertig einstufte. Sie entfaltete ihre tödliche Logik im Zuge eines sich schubweise radikalisierenden, situativ improvisierten, stets jedoch auf das weltanschauliche Rassendogma ausgerichteten Prozesses, der in der „Euthanasie“ in eine Phase des systematischen Mordens überging und schließlich, während des Weltkrieges, in den Genozid an den Jüdinnen und Juden und an den Sinti und Roma oder in den Ethnozid an Polinnen und Polen, Russinnen und Russen mündete. Die Geschichte des Nationalsozialismus ging aus der deutschen Geschichte hervor, war folgerichtig in ihr angelegt, aber keineswegs notwendig oder zwangsläufig. Sie stand in einer vielfach gebrochenen Kontinuität zur deutschen Geschichte und führte in einen in seiner Gewalt- und Vernichtungsdimension singulären Zivilisationsbruch. Sie repräsentiert ein in seiner Charakteristik einzigartiges historisches Phänomen und eine Zäsur der deutschen, europäischen und globalen Geschichte.
© Dr. Lars Lüdicke (Deutsche Gesellschaft e. V.)