Pluralismus
Ein zentrales Merkmal liberaler Demokratien ist der Pluralismus. Der Begriff, der im Grundgesetz nicht vorkommt, steht im weiteren Sinne für ein gewaltenteiliges Regierungssystem, das auf Freiheitsrechten aufbaut und sich in der legitimen Ausübung von Opposition manifestiert. Sein Wesen ist „gestatteter, ausgetragener, geregelter Konflikt“ – so hat es der Soziologe Ralf Dahrendorf umschrieben. Der Pluralismus nimmt Meinungs- und Interessenunterschiede nicht einfach als gegeben hin, sondern betrachtet sie als Ausdruck wünschenswerter Vielfalt. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff auf das Mit- und Nebeneinander gesellschaftlicher Gruppen, in denen die einzelnen ihre Interessen und Meinungen auf der Basis der Freiheitsrechte organisieren und politisch zur Geltung bringen. Neben den Parteien, die als faktische Regierungsorgane weit in die staatliche Sphäre hineinragen, geraten dabei vor allem die Vereine und Verbände in den Blick.
Während die Parteien gesamtgesellschaftliche, am Gemeinwohl ausgerichtete Ziele verfolgen, wird die Legitimität der verbandlichen Interessenverfolgung oft mit dem Hinweis bestritten, dass sie nur partikularer Natur sei. Symptomatisch für das Missverständnis steht der häufig benutzte und abwertend gemeinte Begriff des „Lobbyismus“, obwohl man auch neutraler von „Lobbying“ sprechen könnte. Dahinter verbirgt sich zugleich die Kritik an der ungleichen Organisationsfähigkeit und Durchsetzungsmacht einzelner Interessen, die seit den 1960er Jahren zu einem Dauerthema der Pluralismusforschung avanciert ist.
Deutschland verfügt über eine traditionell dichte Vereins- und Verbändestruktur. Die Ursprünge des modernen Verbandswesens liegen im Kaiserreich, nachdem das Vereinswesen im Umfeld der Revolution von 1848/49 und der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft schon vorher aufgeblüht war (Vormärz). Als mit der Gewährleistung der Koalitions- und Gewerbefreiheit die Schranken gegen eine freie Gründung von Verbänden fielen, bildete sich im Zuge der Industrialisierung und beginnenden Sozialstaatlichkeit ein immer breiter gefächertes System von Interessenorganisationen heraus, die ihre Forderungen an den Staat herantrugen und auf deren Informationen und Sachverstand der Staat seinerseits angewiesen war.
Die Systematisierung der Interessengruppen fällt nicht leicht, denn die verschiedenen Bereiche weisen zahlreiche Überschneidungen auf. Wenig hilfreich ist die Unterscheidung zwischen Vereinen und den politische Interessen vertretenden Verbänden, da sich auch Verbände und sogar Parteien in der Rechtsform des Vereins organisieren. Legt man die Vereinszwecke zugrunde, fällt das Gros der Vereine aus den Interessengruppen heraus, da es ihnen vorrangig um gemeinsame Aktivitäten in der Privatsphäre geht. Auch wenn es sich dabei um unpolitische Tätigkeiten handelt, erfüllen sie in sozialer Hinsicht eine wichtige Funktion, indem sie gemeinschaftlichen Zusammenhalt stiften und so zur Integration der Gesellschaft beitragen (Politische Kultur).
Blickt man auf die eigentlichen Interessenorganisationen, so liegt deren Zahl in der Bundesrepublik deutlich niedriger als die der Vereine. Beim Deutschen Bundestag waren 2020 gut 2.300 Verbände offiziell registriert. Nach Art der Interessen lassen sich unterscheiden: Wirtschaft / Arbeit, Soziales, Freizeit und werteorientierte Vereinigungen. Die größte Bedeutung kommt dem Bereich Wirtschaft und Arbeit zu. Dieser ist vor allem durch den Gegensatz zwischen der Unternehmer- und Arbeitnehmerseite geprägt, die sich in Branchenverbänden und Gewerkschaften zusammenschließen. Die Unternehmerschaft weist dabei traditionell den höheren Organisationsgrad auf. Eine weitere Säule bilden die Kammern, den man als Angehöriger bestimmter Berufsgruppen qua Gesetz angehört.
Unter den Verbänden, die soziale Interessen organisieren, sind an erster Stelle die großen Wohlfahrtsverbände zu nennen, also etwa die Caritas oder die Diakonie. Sie fungieren zugleich als Anbieter sozialer Dienstleistungen. Im Freizeitbereich stechen der Deutschen Olympischen Sportbund und der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) hervor, die 28 beziehungsweise 21 Millionen Mitglieder vertreten. Das größte Spektrum an Organisationsformen weisen die werteorientierten Vereinigungen auf. Eine Sonderstellung nehmen hier die beiden christlichen Kirchen ein (Kirche und Staat). Neben sie treten als zweite große Säule die Umweltverbände. Grenzfälle unter den Interessengruppen stellen Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen dar. Sie unterscheiden sich von den „normalen“ Verbänden durch ihre stärker informell geprägten Organisationsstrukturen und protestorientierten Handlungsformen (Partizipation).
Die Interessenvermittlung spielt sich in verschiedenen Sphären ab. Erstens nehmen die Verbände am politischen Willensbildungsprozess teil. Als Adressaten lassen sich die Parteien und die allgemeine Öffentlichkeit unterscheiden. In der zweiten Sphäre – der Einwirkung auf Parlament und Regierung– beanspruchen Beratungstätigkeiten im Vorfeld ebenfalls einen wichtigen Platz ein, treten aber hinter den förmlichen Anhörungsrechten zurück, die die Verbände im Rahmen der Gesetzgebung genießen. Hauptadressat der Verbandseingaben sind die Ministerien, wo die meisten Gesetzesvorlagen entstehen. Beklagt wird dabei häufig die fehlende Transparenz und öffentliche Kontrolle. Ihr versucht der Gesetzgeber seit 2022 mit einem verpflichtenden Lobbyregister entgegenzuwirken.
In der dritten Sphäre übernehmen die Interessenorganisationen selbst öffentliche Funktionen und agieren damit als quasistaatliche Institutionen. Wichtigste Bereiche sind das Tarifvertragssystem und die mit sozialstaatlichen Aufgaben betrauten Wohlfahrtsverbände. Die als Korporatismusbezeichnete Aushandlungwirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitischer Grundentscheidungen zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Regierung, die ihren Höhepunkt mit der „Konzertierten Aktion“ in den 1970er Jahren fand, hat ihre frühere Bedeutung dagegen eingebüßt und ist hinter die klassischen Formen des direkten Lobbying wieder zurückgetreten.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)