Bundestag
Der Deutsche Bundestag steht im Zentrum des parlamentarischen Regierungssystems. Unter den fünf Bundesorganen ist er dasjenige mit der größten demokratischen Legitimation. Als einziges Organ wird er von den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgerinnen direkt gewählt. Zugleich stellt er ein Kollektivorgan dar, das die Interessen und Meinungen der Bevölkerung umfassender repräsentieren kann als die Bundesregierung oder der Bundespräsident. Denn anders als bei diesen sind im Parlament immer auch die Angehörigen der Minderheit vertreten, die bei der Wahl unterlegen war.
Regulär setzt sich der Bundestag aus 598 Abgeordneten zusammen. Die tatsächliche Zahl liegt aber schon seit längerem sehr viel höher, da das bis 2021 gültige Wahlrecht die Möglichkeit von zusätzlichen Überhang- und Ausgleichsmandaten vorsah. Mit dem von der Ampelkoalition 2023 gegen den Willen der Opposition durchgesetzten neuen Wahlrecht werden diese künftig wegfallen und die Zahl der Mandate auf 630 begrenzt. Die Parlamentarier werden in ihrer Tätigkeit von etwa 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt. Der Bundestag hat seinen Sitz im Reichstagsgebäude, das nach der Entscheidung, die Hauptstadt von Bonn nach Berlin zu verlegen, renoviert und umgestaltet wurde. Ergänzt wird es durch drei neu errichtete Funktionsgebäude in unmittelbarer Nachbarschaft (Jakob-Kaiser-Haus, Paul-Löbe-Haus, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus).
Gewählt werden die Abgeordneten laut Artikel 38 des Grundgesetzes „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Ein Fraktionszwang, der die Mandatsträger verpflichtet, dem Mehrheitswillen ihrer Parteien zu folgen, darf es daher nicht geben, nur eine freiwillig geübte Fraktions- und Parteidisziplin. De facto bewerben sich alle Abgeordneten als Vertreter einer Partei für ihr Mandat. Bei den Listenkandidaten, die über die Zweitstimme gewählt werden, ist dies sogar vorgeschrieben. Fraktions- und Parteiaustritte oder -ausschlüsse während einer Legislaturperiode kommen immer wieder vor – zuletzt vor allem bei der AfD. Sie können für eine Partei zum Problem werden, wenn sie dadurch ihren Fraktionsstatus verliert. Für diesen den eine Mindestgröße von fünf Prozent der Abgeordneten erforderlich.
Die Fraktionen genießen im Deutschen Bundestag eine starke Stellung, da sie über besondere Rechte verfügen. Nur sie können zum Beispiel Gesetzesinitiativen einbringen, nicht die einzelnen Abgeordneten. Der Bundestag muss spätestens vier Wochen nach der Wahl zusammentreten. Geleitet wird die Eröffnungssitzung vom Alterspräsidenten. 2017 wurde die Geschäftsordnung des Bundestages dahingehend geändert, dass nicht der an Lebensjahren älteste, sondern der Abgeordnete mit der längsten Parlamentszugehörigkeit diese Funktion übernimmt.
Für die Wahl des Bundestagspräsidenten wird das Vorschlagsrecht qua Gewohnheitsrecht der stärksten Fraktion zugesprochen, auch wenn sie nicht in der Regierung vertreten ist. Formell bekleidet der Bundestagspräsident das zweithöchste Staatsamt. Er bildet zusammen mit den Vizepräsidenten, die in der Regel von jeder Fraktion gestellt werden, das Bundestagspräsidium. Außerdem sitzt er dem Ältestenrat vor, der das eigentliche Organisations- und Leitungsgremium der Parlamentsarbeit ist – ihm gehören neben dem Präsidium 23 weitere von den Fraktionen benannte Mitglieder an.
Dem Bundestag werden in der rechts- und politikwissenschaftlichen Literatur gemeinhin vier Hauptfunktionen zugeschrieben. Erstens bestellt er mit seiner Mehrheit die Bundesregierung und trägt diese. Abweichend von den Gepflogenheiten in anderen parlamentarischen Demokratien findet die Bestellung dabei als förmliche Wahl (des Bundeskanzlers) statt und erfolgt in geheimer Abstimmung.
Zweitens beschließt er über die Gesetze und wirkt an deren Zustandekommen mit. Sein Einfluss bleibt dabei hinter dem der Bundesregierung zurück, von der die meisten Gesetzesinitiativen stammen. Diese werden von den Beamten in den Ministerien vorbereitet. Die parlamentarische Beratung der Gesetze findet in den Ausschüssen des Bundestages statt. Dort werden aber meistens nur noch Details verändert, nicht die grundsätzliche Stoßrichtung.
Drittens obliegt dem Bundestag die Kontrolle der Regierung. Die Wahrnehmung dieser Funktion ist zwischen den die Regierung tragenden Mehrheitsfraktionen und der Opposition geteilt. Die Mehrheitsfraktionen kontrollieren durch interne Mitwirkung, die Oppositionsparteien durch nach außen hin sichtbare gemachte Kritik und Überwachung. Dazu stehen ihnen eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die als Minderheitenrechte ausgestaltet sind: Kleine und Große Anfragen, Beantragung aktueller Stunden, Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und Anrufung des Bundesverfassungsgerichts.
Für die Kommunikations- und Öffentlichkeitsfunktion des Bundestages ist viertens die Unterscheidung zwischen Rede- und Arbeitsparlament bedeutsam. Im „Redeparlament“ liegt der Schwerpunkt auf den im Plenum gehaltenen Debatten, im „Arbeitsparlament“ auf der Ausschusstätigkeit. Im ersten Bereich hat die öffentliche Wirkung des Bundestages medienbedingt abgenommen, im zweiten Bereich war sie von jeher gering, weil die Ausschüsse in der Regel hinter verschlossenen Türen tagen.
Die stärkste Waffe der Opposition gegenüber der Regierung ist deren Abwahl durch ein Konstruktiven Misstrauensvotum. Umgekehrt kann die Regierung ihrerseits den Bundestag um das Vertrauen bitten – sei es, um die eigenen Reihen bei einem intern umstrittenen Gesetzesvorhaben zur Gefolgschaft zu zwingen oder um bei einer abgelehnten Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizuführen. Die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages trifft der Bundespräsident.
© Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn)