3. Juni 1972
Ostverträge
Neue Ostpolitik
Die Ostverträge waren Ergebnis der Neuen Ostpolitik, die – unter den Bedingungen des Ost-West-Konfliktes – auf einen Ausgleich mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten abzielte. Zwar hatte es bereits Anfang der 1960er Jahre neue Akzente in der Ostpolitik der Bundesrepublik gegeben; im engeren Sinne begann der sich in der Neue Ostpolitik abzeichnende Strategiewechsel jedoch mit der Kanzlerschaft von Willy Brandt (1969 bis 1974). Bereits in seiner ersten Regierungserklärung hatte der neue Kanzler als seine Überzeugung formuliert, dass die Bundesrepublik nicht nur „die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen“, sondern auch „die Verständigung mit dem Osten“ brauche. Die Bundesregierung sei, so Brandt, zu einem „ehrlichen Versuch der Verständigung“ bereit. Sie sei „frei von der Illusion, zu glauben, das Werk der Versöhnung sei leicht oder schnell zu vollenden. Aber es sei „an der Zeit“, die Arbeit an diesem Werk zu beginnen und den Prozeß voranzubringen. Das deutsche Volk brauche den Frieden, so Brandt, „auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens." Deshalb sei die Bundesregierung grundsätzlich bereit, „mit allen Staaten der Welt, die unseren Wunsch nach friedlicher Zusammenarbeit teilen, diplomatische Beziehungen zu unterhalten“. Zugleich wolle sich die Bundesregierung „konsequent für den Abbau der militärischen Konfrontation in Europa“ einsetzen und deshalb auf den Abschluss von „Abkommen der Abrüstung und Rüstungsbegrenzung“ sowie auf eine Konferenz über europäische Sicherheit hinwirken.
In Brandts Neuer Ostpolitik wurde die Idee eines „Wandels durch Annäherung“ zum Prinzip der Außenpolitik. Maßgeblich von seinem engem Mitarbeiter Egon Bahr entwickelt und umgesetzt, sollte der Status quo zunächst einmal anerkannt und langfristig durch eine Entspannungspolitik überwunden werden. Beide vertraten die Ansicht, dass die zuvor verfolgte Politik des Drucks und der Stärke eher zu einer Vertiefung der Ost-West-Spaltung beigetragen hätte. Deshalb sollte es eine Annäherung in Form von Verhandlungen über gemeinsame Interessen geben, etwa über die globale Friedenssicherung und insbesondere die Verhinderung eines atomaren Krieges, aus denen sich eine gesamteuropäische Friedensordnung entwickeln ließe. Über diese Politik, die Brand in enger Abstimmung mit den westlichen Verbündeten umsetzte, wollte er über die Ost-West-Spaltung hinauskommen. Dementsprechend war er davon überzeugt, dass zunächst einmal die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Realitäten, zu denen faktisch auch die Existenz von zwei Staaten in Deutschland gehörte, anerkannt werden mussten, wenn man sie überwinden wollte.
Ostverträge
Zu diesen Realitäten gehörte auch die deutsch-polnische Grenze an der Oder-Neiße-Linie sowie die deutsch-deutschen Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, die der Moskauer Vertrag für unverletzlich erklärte. „Unverletzlich“ bedeutet aber nicht „unveränderbar“: Im gegenseitigem Einvernehmen waren Grenzveränderungen zulässig. Zudem wurde ein gegenseitiger Gewaltverzicht festgeschrieben d.h. die Vertragsparteien verpflichteten sich darauf, zwischenstaatliche Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Auch im Warschauer Vertrag verpflichten sich die Vertragsparteien zur friedlichen Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten. In Artikel 1 des Abkommens erklärten beide Staaten überdies, „dass sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden“. Wie bereits die Verhandlungen mit der sowjetischen gestalteten sich auch die Verhandlungen mit der polnischen Regierung schwierig. Auch unter den Bewohnern der Sowjetunion und Polens gab es viele Gegner einer Politik der Aussöhnung mit den Deutschen, da es Deutsche gewesen waren, die in beiden Ländern während des Zweiten Weltkriegs die grausamsten Verbrechen verübt hatten.
Der Kniefall von Warschau
Knapp 25 Jahre nach Kriegsende war die Geschichte der nationalsozialistischen Gräueltaten noch vielfach präsent. „Es war eine ungewöhnliche Last, die ich auf meinem Weg nach Warschau mitnahm“, schrieb Brandt später über seine Reise zur Vertragsunterzeichnung. „Nirgends hatte das Volk, hatten die Menschen so gelitten wie in Polen.“
Vor der Vertragsunterzeichnung standen zwei Kranzniederlegungen im Protokoll: am Grabmal des unbekannten Soldaten und am Mahnmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Am Mahnmal zupfte Brandt mit versteinerter Miene die schwarz-rot-goldene Schleife am Kranzgebinde zurecht und trat dann ein paar Schritte zurück. Niemand war jedoch darauf gefasst, was dann geschah, selbst Brandt hatte vorher nicht gewusst, wozu er sich nun entschloss: Er ging auf die Knie, die Hände übereinander, den Kopf geneigt. Eine halbe Minute verharrte er im stillen Gedenken, bevor er sich wieder erhob. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schrieb er später in seinen Erinnerungen.
Brandts Kniefall war Ausdruck einer spontanen Gefühlsregung – und erschien deshalb als aufrichtige Geste der Empathie. Sie kam von einem Mann, der aktiv gegen den Nationalsozialismus eingetreten und schließlich vor den Nationalsozialisten ins Exil hatte fliehen müssen: Darin lag die spezifische Wert der Geste, mit der Brandt die deutsche Schuld anerkannte, seine Trauer ausdrückte und um Vergebung für sein Volk bat. Ein Augenzeuge brachte den Eindruck dieses historischen Moments in folgenden Worten auf den Punkt: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“
In der Bundesrepublik fand die Geste ein geteiltes Echo. Nur 41 Prozent der befragten Deutschen hielten Brandts Verhalten am Ghetto-Mahnmal für angemessen, 48 Prozent bezeichnen es als übertrieben. Auch die Verträge und die Neue Ostpolitik waren umstritten. Insbesondere bei politischen Gegnern und Heimatvertriebenen, die ihre letzten Hoffnungen auf Rückkehr in die ehemals deutschen Ostgebiete aufgeben mussten, rief der als „Verzichtspolitik“ geschmähte Kurs heftige Proteste hervor. Vielen warfen Brandt einen „Ausverkauf der deutschen Interessen“ und „Vaterlandsverrat“ vor. Der Verlust der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze fachte sogar Emotionen an, die sich in radikale Forderungen entluden: „Brandt an die Wand“ oder „Hängt die Verräter“ waren Slogans, die auf Mauern und Transparenten zu lesen standen.
Brandt selbst war sich der psychologischen Wirkung des Warschauer Vertrages bewusst. Bereits in seiner Rede zur Vertragsunterzeichnung sagte er: „Für viele meiner Landsleute, deren Familien im Osten gelebt haben, ist dies ein problemgeladener Tag. Manche empfinden es so, als ob jetzt der Verlust eintritt, den sie vor 25 Jahren erlitten haben." Zu den Realitäten, die man anerkennen müsse, gehöre aber die Erkenntnis: „Mit diesem Vertrag wird nichts verspielt, was nicht Hitler schon verspielt hat.“ In einer Fernsehansprache wiederholte er, direkt an das Publikum in der Bundesrepublik gerichtet, seine Überzeugung fast wortgleich: Der Vertrag "gibt nichts preis, was nicht längst verspielt worden ist. Verspielt nicht von uns, die wir in der Bundesrepublik Deutschland politische Verantwortung tragen und getragen haben. Sondern verspielt von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus.“
Frieden
Auch von der Zielrichtung des Vertrages versuchte Brandt die Deutschen zu überzeugen. „Der Vertrag von Warschau soll einen Schlußstrich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit. Wir haben uns nicht leichten Herzens hierzu entschieden. […] Aber guten Gewissens, denn wir sind überzeugt, daß Spannungen abgebaut, Verträge über Gewaltverzicht befolgt, die Beziehungen verbessert und die geeigneten Formen der Zusammenarbeit gefunden werden müssen, um zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen. […] Nichts ist weiter wichtiger als die Herstellung eines gesicherten Friedens. Dazu gibt es keine Alternative. Frieden ist nicht möglich, ohne europäische Solidarität. Alles, was uns diesem Ziele näherbringt, ist ein guter Dienst an unserem Volk und vor allem ein Dienst für die, die nach uns kommen.“
Ein knappes Jahr nach Unterzeichnung, im Oktober 1971, gab das Nobelpreis-Komitee in Oslo bekannt, dass es Brandt den Friedensnobelpreis zusprach und mit dieser Auszeichnung die Bemühungen würdigte, durch eine neue Ostpolitik die Verständigung der Bundesrepublik Deutschland mit ihren östlichen Nachbarn herbeizuführen und den Frieden in Europa sicherer zu machen.
Die Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik gingen dennoch weiter. Erst im Mai 1972, nach einer über anderthalb Jahre erbittert geführten Debatte und einem gescheiterten Mißtrauensvotum gegen Brandt, wurden die Verträge von Moskau und Warschau ratifiziert. Im Verbund mit den anderen Ostverträgen, zu denen u.a. der Prager Vertrag und der Grundlagenvertrag gehörten, wurde die Basis für eine politische Verständigung geschaffen, die nicht zuletzt eine Vorbedingung für die Deutsche Einheit 1990 war.
© Dr. Lars Lüdicke (Deutsche Gesellschaft e. V.)