6. August 1806
Das Ende des Reiches
Die Entstehung des "teutschen" Reichs
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts existierte auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik, aber weit über deren Territorien hinaus, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Es hatte sich im 10. Jahrhundert aus dem ehemals karolingischen Ostfränkischen Reich als „Sacrum Imperium Romanum“ oder „Sacrum Romanum Imperium“ – als Heiliges Römisches Reich – herausgebildet, das nach mittelalterlicher Weltreichslehre, die auf alttestamentarische Ursprünge zurückging, in der Tradition des antiken Römischen Reiches stand. Erst im 15. Jahrhundert kam der Begriff „deutsch“ / zeitgenössisch: „teutsch“ hinzu (erstmals 1486 im sogenannten Landfrieden Kaiser Friedrichs III.).
Wie der Begriff bildete sich auch die mit ihm bezeichnete Identität erst im Laufe der Zeit heraus. So wird, aufgrund ihrer folgenreichen, epochalen Bedeutung, die Schlacht auf dem Lechfeld (955) mitunter als „Geburt der deutschen Nation“ bezeichnet. In dieser Entscheidungsschlacht hatte Otto der Große die Einfälle der Ungarn gestoppt und damit seine Vorherrschaft im ostfränkischen Reich gegen innere und äußere Feinde durchgesetzt. Gewiss spielte immer auch Verklärung in die Interpretation hinein, sobald die Schlacht als Ausgangspunkt einer neuen Identität und Startpunkt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gedeutet wurde. Doch der gemeinsam mit Bayern, Böhmen, Schwaben, Franken und Sachsen errungene Sieg mag tatsächlich ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen haben, das der deutschen Geschichte eine neue Richtung gab.
Der Charakter des Reiches
Zutreffend ist: Das Heilige Römische Reich war Zeit seines Bestehens kein Zentral- und Nationalstaat – sondern ein übernationales Herrschaftsgebilde aus fast 300 mehr oder minder souveränen Einzelstaaten bzw. reichständischen Territorien (in dieser historischen Konstellation hat der heutige Föderalismus in Deutschland seinen Ursprung). Es gab keine zentralisierte Herrschaftsgewalt mit einer Residenz; vielmehr war das Reisekönigtum bis in das Spätmittelalter hinein die übliche Form der Herrschaftsausübung: Die deutschen Könige oder Kaiser regierten nicht von einer Hauptstadt im heutigen Sinne aus, sondern von wechselnden Orten aus, zumeist von Burgen oder Pfalzen.
Bis in das 19. Jahrhundert hinein blieb das Reich in viele kleine und größere Territorialstaaten zersplittert. Dieser Partikularismus hatte Bestand, da die Einzelinteressen der jeweiligen Herrscher gegeneinanderstanden, die ihre Macht nicht verlieren und deshalb die Herausbildung größerer Einheit verhindern wollten. Zwar etablierten sich im Laufe der Zeit zwei große Territorialkomplexe, das Erzherzogtum Österreich und das Königreich Preußen, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts das Reich dominierten. Doch diese Konzentration bewirkte keine Einigung des Reiches – ganz im Gegenteil: Beide Mächte versuchten nicht, das Reich zu stärken, sondern es für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Aus der als Dualismus bezeichneten Rivalität entstanden sogar Kriege, die für das Reich verheerend waren.
Äußere Einflüsse
Ein wesentlicher Anstoß zur Nationalstaatsbildung kam von außen. Mit der Französischen Revolution begann eine neue Epoche: Ihre Ideen von bürgerlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit fanden auch im Deutschen Reich großen Widerhall und führten zu einer Erosion der Legitimationsbasis des überkommenen feudal-ständischen Systems. Die Dynastien der „alten“ Mächte, voran Österreich und Preußen, fühlten sich von den Ereignissen in Frankreich bedroht; aus Furcht vor einem Ausgreifen der revolutionären Bewegung auf ihre Länder stellten sie sich – nach innen wie nach außen – gegen die Ideen dieser Revolution, die sich zunehmend radikalisierte. 1791 entschlossen sich Preußen und Österreich zu einem Bündnis gegen Frankreich, dem später unter anderem auch Großbritannien beitrat. Das revolutionäre Frankreich, das seine Ideen in andere Staaten tragen wollte, reagierte mit einer Kriegserklärung auf den zunehmenden Druck. Die Zeit der Koalitionskriege (1792-1815) begann. Unter Führung von Napoleon Bonaparte eroberten die französischen Revolutionsheere weite Teile Europas.
Mit der französischen Expansion veränderte sich auch die deutsche Landkarte völlig. Die linksrheinischen Gebiete fielen an Frankreich (1801); im Gegenzug wurden deutsche Fürsten für diese Gebietsverluste abgefunden (Reichsdeputationshauptschluss 1803), und zwar durch Einziehung kirchlicher Herrschaftsgebiete (Säkularisierung) sowie Eingliederung bisheriger reichsunmittelbarer Einheiten in neue Territorialstaaten (Mediatisierung). Mit dieser territorialen Neuordnung bildeten sich in Süddeutschland neue Mittelstaaten heraus (Baden, Bayern oder Württemberg), die machtpolitisch von der neuen Hegemonialmacht abhängig waren.
Das Ende des Reiches
Zugleich führte die napoleonische Vorherrschaft in Mitteleuropa zur Auflösung des alten Reiches mitsamt seiner Macht- und Rechtsordnung. Die süddeutschen Staaten wurden von Napoleon zur Loslösung vom alten Reich gedrängt; als er von Kaiser Franz II. die Niederlegung der römisch-deutschen Reichswürde erzwang (1806), ging die fast tausendjährige Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das zuvor bereits in Auflösung begriffen war, endgültig zu Ende.
In der Folgezeit löste Napoleons Hegemonie einen umfassenden, zum Teil widersprüchlichen Wandel aus. In vielen deutschen Gebieten fanden Reformen statt, mit denen die Grundlagen des modernen Staates geschaffen wurden: teils – wie im süddeutschen Raum – zur Konsolidierung der neuen und vergrößerten Staaten sowie zur Integration der neuen Gebiete, teils – wie in Preußen – zur Modernisierung des Systems zum Zwecke der Befreiung von französischer Fremdherrschaft.
© Dr. Lars Lüdicke (Deutsche Gesellschaft e. V.)